Seit dem letzten Jahr muss der Bund Asylsuchende medizinisch untersuchen lassen, wenn er Zweifel an ihrem Alter hat. Nun tauchen in der Statistik auf einmal weniger 18-Jährige auf. Link zum Artikel
Larissa Rhyn, Bern (Text), Jonas Oesch (Grafik), Dominic Nahr (Bilder)
Zwei Jahre lang war Hussain* in den Augen des Schweizer Staats erwachsen. Der afghanische Asylsuchende hat dies stets bestritten und beteuert, noch minderjährig zu sein. Doch der Bund glaubte ihm nicht. Vor rund einem Monat korrigierte das Staatssekretariat für Migration (SEM) das Alter dann doch, seither gilt Hussain offiziell als 17-Jähriger. Dies, ohne dass ein Arzt ihn untersucht hätte oder andere neue Belege gefunden worden wären.
Hussains Fall illustriert, wie freihändig das Amt bis vor kurzem das Alter von jungen Asylsuchenden bestimmen konnte. Wie oft es dies auch tatsächlich getan hat, ist aber schwierig zu eruieren. Das SEM teilt auf Anfrage nicht mit, wie viele Asylsuchende in den letzten Jahren ohne weitergehende Analysen für volljährig erklärt wurden. Ein Mediensprecher begründet dies damit, dass sich im internen System keine Statistik dazu erstellen lasse.
Der Bund glaubt Hussain nicht, dass er minderjährig sei. Deshalb lebt er die ersten Monate im Asylheim unter Erwachsenen, ohne spezielle Betreuung.
Ob ein Asylsuchender volljährig ist oder nicht, kann darüber entscheiden, ob er in der Schweiz bleiben darf oder nicht. Denn Minderjährige werden seltener in andere Länder zurückgeführt und haben eine grössere Chance, langfristig in der Schweiz zu bleiben. Sie erhalten einen Beistand und wohnen in speziellen Unterkünften, wo sie enger betreut werden. Diese bevorzugte Behandlung gibt jungen Erwachsenen einen Anreiz, sich bei der Befragung durch die Asylbehörden als Minderjährige auszugeben. Um Missbrauch zu verhindern, muss das SEM im Zweifelsfall das Alter prüfen.
Als Hussain im August 2018 alleine in der Schweiz ankommt, gibt er an, im Jahr 2003 geboren zu sein. Er bekommt zwar rechtliches Gehör, wird zu seinem Alter befragt. Doch die Person, die das Gespräch führt, glaubt ihm nicht. Sie trägt ohne weitere Abklärungen den 1. Januar 2000 als Geburtsdatum im Asylregister ein. Hussain kommt als 15-Jähriger ins Sitzungszimmer und verlässt es nur 35 Minuten später als 18-Jähriger wieder.
Asylsuchende haben eine Mitwirkungspflicht. Sie müssen versuchen, ihre Angaben mit Dokumenten zu belegen. Darauf beruft sich das SEM. Der junge Afghane kann den Schweizer Behörden zuerst keinen Ausweis vorlegen, beteuert aber, dass er seine Verwandten bitten will, ihm alle nötigen Papiere zu schicken. Gemäss Protokoll, das der NZZ vorliegt, sagt er am Ende der Befragung: «Sie können aber schon im Voraus eine Altersanalyse mit mir durchführen. Es braucht ein wenig Zeit, bis meine Dokumente hier eintreffen. Ich habe wirklich keinen Grund, zu lügen.»
Doch das SEM verweigert ihm eine Analyse. Der Jugendliche kommt in ein Asylheim, wo er nicht speziell betreut wird. «Ich war lange auf mich allein gestellt und habe im Asylheim mehrere Jungen in meinem Alter getroffen, die in der gleichen Situation waren», sagt er heute.
Für den Bund hat es einen klaren Vorteil, wenn er von der Volljährigkeit ausgeht: Erwachsene Asylsuchende kosten weniger als Minderjährige. Wie hoch dieser finanzielle Unterschied genau ist, kann das SEM nicht beziffern, da die Kosten vom Standort und von der Anzahl Asylgesuche abhängig seien und sich variable und fixe Kosten nicht auf einzelne Personen herunterrechnen liessen.
Der «Blick» äusserte vor einigen Jahren den Verdacht, dass der Bund unbegleitete minderjährige Asylsuchende bewusst älter mache, um damit ihre Chancen auf Asyl zu verringern. Denn die Statistik, welche die Zeitung gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hatte, zeigte, dass das SEM von 2010 bis 2015 überdurchschnittlich viele 18-Jährige registriert hatte. Der Ausreisser in der Statistik war bei Asylsuchenden aus Afghanistan besonders auffällig.
Das SEM wehrte sich. Es argumentierte, wer nach einem Altersgutachten als volljährig gelte, werde jeweils als 18-Jähriger eingetragen – auch wenn er möglicherweise älter sei. Zudem würden einige Asylsuchende fälschlicherweise behaupten, 18 zu sein, weil sie hofften, dadurch leichter Arbeit zu finden. Dadurch ergebe sich ein Ausreisser beim Alter 18.
Eine Datenanalyse der NZZ zeigt nun, dass seit 2015 der Anteil der 18-Jährigen in der Statistik sukzessive abgenommen und sich dabei dem Anteil der 17-Jährigen angenähert hat. In der Zeitspanne von März 2019 bis Februar 2020 war die Verteilung zwischen 17- und 18-Jährigen zum ersten Mal seit Jahren ausgeglichen. Im März 2019 sind neue ärztliche Altersanalysen eingeführt worden. Sie werden nun systematisch angewendet, wann immer Zweifel am Alter bestehen.
Nachdem die Altersstatistik 2016 publik geworden war, übten Parlamentarier und Nichtregierungsorganisationen Kritik. Die Daten legen den Schluss nahe, dass das SEM seine Praxis der Altersbestimmung danach schrittweise angepasst hat. Auf Anfrage schreibt das SEM, man habe die neue Methode in den Vorjahren punktuell getestet. Die Daten zur Altersverteilung liessen jedoch keine Schlüsse zum Altersbestimmungsverfahren zu. Die Zahlen würden stark von der Entwicklung der Asylströme und den Herkunftsländern der Asylsuchenden abhängen.
Im Jahr 2019 liess das SEM bei 159 Personen rechtsmedizinische Altersanalysen durchführen. 53 davon wurden für volljährig erklärt, wobei das SEM laut eigenen Aussagen jeweils auch andere Indizien beizog. Die Zweifel der Beamten an der Minderjährigkeit wurden also in rund jedem dritten Fall bestätigt. Die ersten Zahlen zur neuen Analyse lassen zwar noch keinen definitiven Schluss zu, sie legen aber die Vermutung nahe, dass die Asylsuchenden von der neuen medizinischen Altersanalyse profitieren.
Die neue Analyse, die das SEM seit etwas über einem Jahr zur Altersbestimmung anwendet, heisst Drei-Säulen-Methode. Dabei werden die Hand und das Schlüsselbein geröntgt und das Gebiss untersucht. Viele Experten halten die drei Elemente individuell für relativ ungenau. Insbesondere die Handknochenanalyse ist umstritten, weil ihre Prognose bis zu drei Jahre danebenliegen kann. Doch durch die Kombination der drei Analysen erhöht sich die Aussagekraft. Die Altersbestimmung wird von Rechtsmedizinern vorgenommen und kostet gemäss SEM zwischen 1200 und 1900 Franken.
Zwar kritisieren linke Politiker und die Schweizerische Flüchtlingshilfe auch die neue Methode und hinterfragen insbesondere, ob sie grundrechtskonform sei. Doch die Praxis wurde bisher stets als rechtmässig beurteilt. Das Bundesverwaltungsgericht bezeichnete sie zudem bereits 2017 als «deutliches Indiz» für die Altersbestimmung. Das Gericht rügte das SEM im letzten Sommer, weil es bei einem jungen Asylsuchenden nur eine Handknochenanalyse vorgenommen hatte.
Hussain hoffte, dass ein Rechtsmediziner eine Altersanalyse bei ihm durchführen würde. Er hoffte vergebens.
Hussain wartet selbst auf diese einfachere Untersuchung vergeblich. Der junge Afghane lebt die ersten Monate nur mit erwachsenen Asylsuchenden zusammen. Ein Asylverantwortlicher in einem anderen Kanton berichtet, er habe oft das Gegenteil erlebt: Junge Männer, die deutlich älter ausgesehen hätten als 18, hätten in Unterkünften für Minderjährige gewohnt – zumindest bis eine Altersanalyse habe durchgeführt werden können. Das höhle den Nutzen des Sondersettings aus. Dieses soll es Kinder- und Jugendlichen ermöglichen, unter Gleichaltrigen zu leben und sie zu schützen.
Hussain leidet nach seiner Ankunft in der Schweiz unter Schlaf- und Essstörungen. Nach einem knappen halben Jahr versucht er im Dezember 2018, sich das Leben zu nehmen. Seither ist er in psychiatrischer Behandlung. Nachdem sich der Verein Exil-Aktion für ihn eingesetzt hat, kann Hussain in eine spezielle Unterkunft für Minderjährige und junge Erwachsene umziehen. Sein Anwalt reicht beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein, weil das SEM nicht auf einen Antrag zur Altersanpassung eintritt.
Das Gericht entscheidet im November 2019. Es kommt zum Schluss: Hussain hat seine Mitwirkungspflicht erfüllt – obwohl er teilweise widersprüchliche Aussagen machte. Das SEM hingegen hätte «weitere zumutbare, sachdienliche Abklärungen» vornehmen müssen, um zu belegen, dass das vom Amt gesetzte Geburtsdatum wahrscheinlicher ist als das, welches Hussain angegeben hat. Deshalb fordert das Gericht, dass der Sachverhalt detaillierter abgeklärt wird, beispielsweise mit einem Altersgutachten (Urteil D_4443/2019). Es weist den Fall zurück ans SEM.
Das SEM lässt sich rund sieben Monate Zeit, bevor es im Juli in einem Brief an Hussains Anwalt erklärt, das Geburtsdatum werde nun angepasst. Man wolle «in Gesamtwürdigung der Aktenlage» und «mit Blick auf die Prozessökonomie und die lange Verfahrensdauer» keine zusätzlichen Abklärungen vornehmen – also auch keine Altersanalyse. Auf Anfrage äussert sich das SEM nicht weiter. Zu Einzelfällen nimmt das Amt grundsätzlich keine Stellung.
Hussains Anhörung zu den Asylgründen hat erst diese Woche stattgefunden. «Ich habe zwei Jahre verloren, und mir wurde die Chance genommen, zur Schule zu gehen», erzählt der Jugendliche, der inzwischen fliessend Deutsch spricht. Wäre sein Alter richtig eingeschätzt worden, hätte er in der Schweiz die Volksschule besuchen können.
Hussain konnte im Frühling, mitten in der Corona-Krise, zwar ein Praktikum in einem Pflegeheim machen. «Aber ohne Schulabschluss finde ich keine Lehrstelle.» Laut dem Kanton Aargau, wo er derzeit wohnt, ist er inzwischen zu alt für die Sekundarschule. Ob die Behörden ihm stattdessen den Besuch einer Privatschule ermöglichen, ist offen.
Ohne Schulabschluss sieht Hussain kaum berufliche Perspektiven. Aber er träumt weiter von einem Job als Pflegefachmann.
* Name geändert.